Mit barocker Dichtung kann ich eigentlich nicht viel anfangen - ähnlich wie mit barocker Architektur.
Alles zu gewunden, zu übertrieben.
2) Ach! ich ruf vor Angst und Schmerzen:
Wo ist denn mein Jesus hin?
Kein Ruh ist in meinem Herzen
so lang, bis ich bei ihm bin.
Ach! wer gibt mir Taubenflügel,
dass ich kann zu jeder Frist
fliegen über Berg und Hügel,
suchen, wo mein Jesus ist?
Ludmilla Elisabeth von Schwarzburg-Rudolstadt (1640-1672), von der dieses Lied stammt, galt lange als die „unbestreitbar größte und originellste Dichterin der evangelischen Kirche“ (Traugott Löschke, 1872).
Ihre 206 geistlichen Lieder sind Ausdruck ihres tiefen Glaubens, ihrer lebendigen Beziehung zu Jesus Christus und ihres persönlichen Zugangs zur Bibel.
Heute sind sie in fast keinem Gesangbuch mehr zu finden.
3) Er vertreibet Angst und Schmerzen,
er vertreibet Sünd und Tod,
wenn sie quälen in dem Herzen;
er hilft jedem aus der Not!
Darum will ich nicht nachlassen,
will bald laufen hin und her;
auf den Feldern, auf den Straßen
will ich suchen mehr und mehr.
Es sind Worte aus einer anderen Zeit und aus einer lange vergangenen Lebens- und Glaubenshaltung.
Doch sie faszinieren mich. Denn es kommt etwas zur Sprache, was ich bei mir selbst mehr und mehr als Fehlstelle erfahre:
Dieser unglaubliche Mut, Glauben und Gottesbeziehung nicht nur mit dem Verstand, sondern mit dem Gefühl zu verbinden.
4) Liebster Jesu! Lass dich finden,
meine Seele schreit in mir,
tu ihr mit den Augen winken,
lass sie eilends sein bei dir!
Ach, lass mich die Gnad erlangen,
allerliebster Jesu mein,
und nimm meine Seel gefangen,
lass sie ewig bei dir sein.
Trotzdem gleitet die Dichterin nicht ab in Gefühlsduselei.
Davor bewahrt sie der biblischen Bezug, wie in dem hier abgedruckten Lied, das sich eindeutig auf das Hohelied bezieht.
Sie weiß, dass es auch andere Lebensentwürfe und dass es Sorgen und Nöte gibt.
Dass sie sich für Jesus entscheidet, bleibt ihre eigene Glaubensentscheidung, die sie als Geschenk Gottes begreift.
Und dieses Geschenk weckt in ihr die Liebe zu Gott.
5) Ach! Ich sterb vor lauter Freuden,
ich find Jesum, meinen Schatz;
alle Weltlust will ich meiden,
bei ihm will ich finden Platz.
Nunmehr soll mich nichts betrüben,
was mich vor betrübet hat;
nichts als Jesum will ich lieben,
den mein Seel gefunden hat.
Gerade heute, wo in mir von allen Seiten Angst- und Schuldgefühle geweckt werden - Klimawandel, Kriegsgefahr, Wirtschaftskrise, Missbrauchsskandal usw. - bis hin zur Infragestellung der eigenen Existenz als Mensch und Christ, spüre ich, wie mir ein solcher Text wieder Mut macht und Kraft gibt zu glauben, dass es einen Gott gibt, liebend und liebenswert, sich mir zuwendend, so dass es sich lohnt, weiter zu leben, zu handeln und zu vertrauen - und zu lieben.
Also werde ich das Lied auswendig lernen, um es meinem persönlichen Gebeten hinzu zu fügen.
6) Liebster Jesu! Meine Freude,
meiner Seelen schönste Zier!
Du bist meines Herzens Weide,
mich verlangt ja stets nach dir.
Mein Herz, Sinnen und Gedanken
sollen dir ergeben sein;
lass mich nimmer von dir wanken,
du sollst ewig bleiben mein.
P. Jakob Olschewski OSA

